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Kunsthistorisches Institut

M.A. Anika Reineke

Der Stoff der Räume. Textilien und Raumkonzepte im Interieur des 18. Jahrhunderts (Woven Spaces. Textiles and Conceptions of Space in the French Rococo Interior)

Der aristokratische Wohnraum des 18. Jahrhunderts war ein textiler Raum: Seiden, Tapisserien und Savonnerien wurden auf Böden, Wänden und Möbeln angebracht, im Wechselspiel mit Architektur und Mensch konstituierten sie das Interieur und dessen repräsentative, zeremonielle und intimen Aspekte. Die Objektgruppen der Seidenwandbespannungen, Wandbehänge und textil bespannten Paravents waren nicht nur Produkte höchsten kunsthandwerklichen Könnens des Ancien Régime, sondern auch Entfaltungsorte einer antiakademischen Ästhetik des Rokoko, die in der scheinbaren Oberflächlichkeit des Dekorativen und Ornamentalen ein komplexes Netzwerk ikonografischer und bildtheoretischer Verweise erschuf. Textilien wirkten im Kontext eines umfassenden Raumensembles bzw. eines meuble, für dessen Umsetzung eine Vielzahl spezialisierter Künstler verantwortlich war. Heraus sticht der Tapissier, dessen weitreichende Arbeitsfelder immer auf der Schnittstelle zwischen Raum und Textil lagen.

Die Arbeit nähert sich jeder Objektgruppe in Form von Fallstudien an, anhand derer sie die materiellen, ästhetischen und kulturellen Verflechtungen der Objekte zu fassen sucht. Dabei werden Kontinuitäten deutlich, wie in der westeuropäischen Tradition der Tapisserieherstellung, aber auch Brüche sind zu beleuchten, wenn etwa der chinesische Holzparavents zu einem textilen Raumtrenner und –erschaffer umgedeutet wird. Häufig spielt, etwa bei der Erfindung des Sofas, die neue Mode des Komfort eine Rolle, doch ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in Bequemlichkeit, sondern ist Sozialdistinktion ebenso wie Ostentation.

Die Materialität einer jeden Objektgruppe gilt es auf ihre spezifischen historischen und kulturellen Konnotationen zu untersuchen, die ihre Verortung, Benutzung und Bedeutung im Raum beeinflusste. Die flirrende Oberfläche der Savonnerie wirkte dabei anders als der glatte Glanz des Damastes. Ein brochierter Brokatstoff konnte mit einer anderen Räumlichkeit aufweisen als eine Wirkerei und die ewig schrägansichtigen Paneele des Paravents verzerrten die Bilder wieder anders als eine Stuhllehne – es wäre falsch anzunehmen, die déssinateurs hätten diese spezifische Nutzung beim Entwurf nicht mitgedacht.

Die Ästhetik einer jeden Objektgruppe resultierte somit unter anderen aus ihrer Materialität wie auch aus ihrer Anbringung. Während Damastwandbespannungen grossflächige visuelle Effekte von Zweidimensionalität und Ephemeralität erzeugten, suchten Tapisserien eine bildhafte Räumlichkeit jenseits der Malerei zu erschaffen. Savonnerie-Paravents dagegen nutzten häufig die Fenstermetapher, um auf einen Raum jenseits des Interieurs zu verweisen. Ihre Motivik ist geprägt von vielseitig begabten Künstlern, ornemanistes und déssinateurs wie François Boucher, François Desportes oder Philippe de Lasalle. Ihnen gemeinsam war ihre Ferne zur Akademie und deren Regulierungen, so dass ihre textilen Bilder sich ganz auf die Rezeption durch den Betrachter konzentrieren konnten.

Somit steht jedes Textil in einem kulturellen Kontext der Rezeption und der Benutzung und ist abgestimmt und eingebettet in ein Gesamtkunstwerk, das geprägt wird von Sehgewohnheiten und individuellem Geschmack, aber auch von repräsentativen und zeremoniellen Traditionen. Ein Interieur ist demnach ein Beziehungsgefüge und eine Schnittstelle kulturphilosophischer Konzepte und gelebtem luxuriösem Alltag, manifestiert in einem fauteuil à la reine, einem Paravent oder einer Tapisserie.

Weiterführende Informationen

Toilette

François Boucher, Die Toilette, 1742